Daten I Armut
Seit der Pandemie steigen die Preise rasant. Die 18- bis 24-Jährigen sind am meisten von Armut betroffen, doch kaum jemand spricht über sie.
Von Sara Guglielmino
Arm ist schon längst nicht mehr nur, wer auf der Straße um Geld betteln muss. Arm ist auch, wer sich keinen Kinobesuch leisten kann, wer auf die Klassenfahrt verzichten muss oder wer am Ende des Monats schlichtweg kein Geld mehr für Essen hat.
Per Definition der Bundeszentrale für politische Bildung ist Deutschland ein Industrieland: mit hohen Technologiestandards und Pro-Kopf-Einkommen sowie einem hohen Bildungsniveau. Armut dürfte da keine Rolle spielen, doch die Realität sieht anders aus.
der jungen Erwachsenen sind armutsgefährdet
Jede und jeder fünfte Minderjährige in Deutschland ist armutsgefährdet. Konkret betrifft das etwa drei Millionen Kinder und Jugendliche. Das zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamts. Die Nachricht ging durch die Medien.
Viele hat erstaunt, dass nicht Kinder unter 18 Jahren, sondern junge Erwachsene von 18 bis 24 Jahren die Gruppe mit der höchsten sogenannten Armutsrisikoquote sind. Das zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamts. 25,3 Prozent der jungen Erwachsenen galten 2022 als einkommensarm. Das sind oft junge Menschen, die gerade erst die Schule beendet haben, die sich in Ausbildung oder im Studium befinden und vor kurzem erst zuhause ausgezogen sind.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge ist Armutsforscher und zählt zu den renommiertesten Experten des Landes in diesem Bereich. Er verfasste mehrere Bücher zum Thema Armut, unter anderem das Buch "Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt".
In solchen Lebensabschnitten müssen junge Menschen oft zum ersten Mal hohe Kosten stemmen – beispielsweise, wenn monatliche Mieten überwiesen, Wocheneinkäufe erledigt und Rechnungen bezahlt werden müssen. Dennoch stehen die 18- bis 24-Jährigen selten im Fokus, wenn es um Armut in Deutschland geht.
"Kinder sind schlichtweg niedlicher", sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Er zählt zu den renommiertesten Stimmen des Landes, wenn es um Armut geht. "Hat ein Kind das Pech, in eine arme Familie hineingeboren zu werden, sind alle Menschen, die davon Kenntnis erhalten, irgendwie angerührt." Wenn aber ein 24-jähriger arm ist, ist er in den Augen vieler nur ein Faulenzer, ein Drückeberger, ein Sozialschmarotzer, sagt Butterwegge.
ist die Armutsgrenze in Deutschland (netto)
Als arm gilt nach EU-Standards, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens der Bevölkerung zur Verfügung hat. Für das Jahr 2021 galt für alleinstehende Personen in Deutschland etwa: Wer weniger als 1.251 Euro netto pro Monat zur Verfügung hat, war arm. Zum Vergleich: Mit mehr als 5.700 Euro netto im Monat gilt man in Deutschland als reich – zumindest, wenn man der Definition des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales folgt.
Viele Auszubildende sind damit systematisch armutsgefährdet: Laut dem Bundesinstitut für Berufsbildung (Bibb) verdienten Auszubildende in Deutschland im Jahr 2022 erstmals durchschnittlich mehr als 1.000 Euro brutto pro Monat. Der Schritt scheint wie ein Meilenstein, doch aufgrund steigender Preise wird das Leben immer teurer und der Lohn verliert an Wert.
Für viele junge Menschen ist selbst ein Besuch im Kino, im Theater oder eines Konzerts zum Luxus geworden – rund acht Prozent mehr kostet ein Ticket im Vergleich zu 2020. Das geht aus Zahlen des Statistischen Bundesamts hervor. Bierpreise sind bis 2020 um etwa 30 Prozent gestiegen, in den vergangenen drei Jahren wiederum um nochmal 20 Prozent. Auch Strom ist heute 35 Prozent teurer als noch vor der Pandemie.
Während die Inflation steigt, wachsen auch die Ausbildungsgehälter. Ein Azubi in Westdeutschland bekam laut Bibb im Jahr 1992 472 Euro im Monat, im Osten waren es 321 Euro. Vergangenes Jahr hingegen verdienten Auszubildende in Deutschland im Schnitt 1.029 Euro im Westen und 1.012 Euro im Osten – erstmals über 1.000 Euro pro Monat.
So weit, so gut – wäre da in den vergangenen drei Jahren nicht die Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine gewesen, der unter anderem hohe Energie- und Lebensmittelpreise zur Folge hatte. Denn das Jahr 2020 stellt einen Wendepunkt dar: Bis 2020 stiegen die Gehälter schneller als die Inflation. Das heißt: Auszubildende konnten die Inflation eher ausgleichen.
Seit 2020 steigt die Inflation allerdings steiler als die durchschnittlichen Ausbildungsgehälter. Das bedeutet, dass es für junge Menschen immer schwerer wird, die steigenden Preise finanziell aufzufangen.
Zudem sind Ausbildungsgehälter meist gestaffelt und steigern sich erst im Laufe der Ausbildung. "Wenn man im ersten Lehrjahr so wenig Geld bekommt und nicht von den Eltern unterstützt wird, wie das bei vielen Studierenden ohne Bafög-Anspruch der Fall ist, verstärkt sich dieses Problem", sagt Butterwegge.
Die heute 18- bis 24-Jährigen wurden zwischen 1999 und 2005 geboren und gehören damit zur sogenannten Generation Z. Immer wieder werden sie mit Vorurteilen konfrontiert, ihre Generation sei faul, zu weich, zu anspruchsvoll. Dabei fordern Vertreterinnen und Vertreter der Generation selten Luxus.
Sie fordern zumeist, dass sie sich mit ihrem Gehalt schlichtweg für die Zukunft absichern können, wie die Studie "Jugend in Deutschland 2023" kürzlich belegte. Die 14- bis 28-Jährigen seien demnach besonders besorgt um ihre finanzielle Situation und hätten das Gefühl, eine schwierigere Aufgabe in der Sicherung des Wohlstands zu haben als noch die vorherigen Generationen.
"Ich finde es absurd, so zu tun, als müssten die Ansprüche der jungen Menschen heute dieselben sein wie die ihrer Vorgänger-Generationen 30 oder 60 Jahre früher", sagt Butterwegge: "In einer Gesellschaft, die so wohlhabend ist wie unsere, erscheint der Anspruch berechtigt, mehr zu haben als das Allernötigste."
Text, Grafik und digitales Storytelling: Sara Guglielmino
Dieser Beitrag gehört zum Projekt der Abschlussklasse S21 der Journalistenschule ifp und ist in Zusammenarbeit mit der Redaktion von WEB.DE und GMX entstanden.